Wenn Jungen Kleider lieben – der Junge im blauen Kleid

„Fraktion Blau“, „Fraktion Rosa“ lese ich in Mütter-Foren von Facebook. Etwas in mir muckt auf bei dem Gedanken, die Welt in blau und rosa; in schwarz-weiß oder golden und silber einzuteilen. Was der Junge im blauen Kleid damit zu tun hat? Lest selbst.

Mama, ich möchte ein blaues Kleid haben!

Zwei große, dunkle Augen schauen mich an. Der Junge wartet auf eine Antwort. Ich streiche über die dicken, langen Haare, die er manchmal zum Zopf gebunden haben will und verspreche, dass er sein blaues Kleid bekommt. Es gibt keinen Anlass, keinen bestimmten Moment, der den Wunsch meines Sohnes geboren haben könnte – zumindest keinen, der mir bewusst wäre.

Versprechen

Seit diesem Abend, an dem der kleiner Junge zufrieden in meinen Armen eingeschlafen ist, bleibt das blaue Kleid Dauerthema. Es vergeht kein Tag, an dem Merlin mich nicht an mein Versprechen erinnert – und ich erneuere es immer wieder. Kurz vor Ostern schlendere ich endlich durch H&M, um ihn mit ebenso heiß ersehnten Traktor- und Bagger-Unterhemden einzudecken.

Girls, girls, … Boys!

Es ist lustig, die Mädchen-Abteilung nach einem blauen Kleid zu durchforsten – Merlins blauem Kleid! Ich werde sofort fündig: Es gibt zu meiner unbändigen Freude ein Matrosenkleidchen! Ich wähle es wie gewöhnlich viel zu groß aus, damit Merlin es lange tragen kann – und bin gespannt, ob er es lange tragen will!

Junge oder Mädchen – risky Vorurteile?

Meine eigenen Gefühle beim Aussuchen und Einkaufen beobachte ich genau. Ich will bewusst erleben, mit wie viel Vorurteil ich dem Thema „Junge und Mädchen“ wirklich begegne. Allerdings – außer der Freude, unerwartet ein Stück Heimat nachhause zu tragen (ich bin bei Hamburg aufgewachsen), fühlt es sich genau so an wie bei besagter Unterwäsche.

Das Osterei ist ein Kleid

Zu Ostern hat sich das blaue Kleid hinter dem Teewagen versteckt. Nachdem der neue Anhänger für’s Bobby Car von Merlin und seinem kleinen Freund genug gewürdigt war, holt er das Matrosenkleidchen aus seinem Versteck hervor.

Mein blaues Kleid!

juchzt der Junge, der sich seit vier (!) Wochen ein solches wünscht. Er will es nicht sofort anziehen und saust vor Freude lieber noch eine Runde ratternd mit dem Bobby Car über die gemarterten Fichtendielen. „Willst du es anziehen? frage ich. „Gleich!“ grölt mein Junge und rast davon in Siegerlaune. Dann steigt er ab und schlüpft in die Trophäe, die er erst wieder gegen den Schlafanzug tauscht. Unter Protest.

Der Morgen danach

Am Dienstag nach Ostern wartet die Kita. Ich ziehe Merlin sein Kleidchen an und merke, dass die erste Begeisterung verflogen ist. Interessant. Dennoch sieht er lachend an sich herunter und dreht sich in den allmorgendlich Tanz – wie immer in der Dusche! In der Kita reagieren die „Erzieherinnen“ (das Wort ist für mich negativ konnotiert, mehr zum Thema „Beziehung statt Erziehung“ liest du hier) interessiert und bemerken, dass der Junge auch dort mehrfach von seinem Kleiderwunsch erzählt hat. Es freut mich, dass auch sie gelassen und wertfrei mit dem Jungen im viel zu großen Matrosenkleidchen umgehen – gerade auf dem oberbayerischen Land hätte ich anderes erwartet. Welcome Vorurteil, daaa bist du!

Wer bin ich?

Seit diesem Tag hat sich das Kleid erledigt. Merlin spricht kein Wort mehr darüber. Einmal wollte er es noch für die Kita anziehen, da er es zufällig auf dem Wäschehaufen erspäht hat. Das ist für mich genau so in Ordnung, wie ich es akzeptiert hätte, eine passende Tasche dazu zu kaufen. Ich freue mich, dass Merlin auf seine eigene Weise experimentiert, herausfindet, wie sich Dinge, Situationen und Begegnungen anfühlen. Vielleicht ist ihm aufgefallen, dass Mädchen Kleider tragen und wollte wissen, ob sich das besonders anfühlt – und vielleicht hat er ganz andere Gründe. Manches geht mich als Mutter auch jetzt schon nichts mehr an. Er darf herauszufinden, wer er ist – ich darf ihn auf diesem Weg begleiten und unterstützen.

Bagger versus Kleid. The winner is …

Gestern wollte Merlin partout keinen Pullover anziehen. „Da kann ich die Bagger nicht mehr sehen!“ lautete die einleuchtende Erklärung. Die kleinen Unterhemden mit den Baufahrzeugen liegen nämlich nach wie vor im Trend. Ich habe das Hemdchen einfach über die Hose gezogen, sodass ein paar Bagger, Traktoren und Mähdrescher noch hervorlugten.  Jungs lieben Autos, Mädchen füttern Puppen. Dieses Stereotyp, dessen Richtigkeit ich empirisch leider nicht widerlegen kann, nagt heftig an meinen feministisch-freiheitlichen Überzeugungen. Ich selbst habe nie gewusst, was ich mit Puppen anstellen sollte. Ich bin aber auch kein Maßstab mit meiner, ich drücke es positiv aus, turbulenten Kindheit.

Herausforderung

Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass es genetisch-hormonell bedingte Geschlechter-Vorlieben geben könnte. Leicht fällt mir jedoch, meinem großen kleinen Jungen zu danken, dass er mich wieder einmal sensibilisiert, mir den Spiegel vors Gesicht gehalten hat – und ich darin weitere Masken meiner Vorurteile erkennen durfte. Und danke, dass du dadurch mein Bemühen und meine Fähigkeit stärkst, dich deinen eigenen Weg finden zu lassen.

Wie sieht es bei euch mit Vorurteilen aus? Dürfen sich eure Kinder ausprobieren und wie reagiert euer Umfeld darauf? Ich freue mich auf neue Aspekte von euch. Wenn ihr Lust habt, diskutiert mit uns in der Community zum Magazin  – willkommen! 

Eure Tanja

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