Transgenerationale Weitergabe

Was ich nicht sinnlich wahrnehmen kann und dennoch zu existieren scheint, weckt meine Neugier. So auch die Transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen. Weshalb sie mich gerade jetzt umtreibt und was sie bedeutet, erzähle ich euch heute. Aus Mutter-Perspektive.

Transgenerationale Weitergabe – wie ein Gespenst aus der Vergangenheit

Ich habe Angst vor der Sirene!

Mit aufgerissenen Augen springt der kleine Merlin auf meinen Schoß und klammert sich ganz fest an mich. Das Herzchen rast. Ungewöhnlich. Der mutige kleine Kerl hat Angst vor dem Heulen einer Sirene? Er weint nicht, braucht aber eine Viertelstunde, bis er sich langsam beruhigt und von seiner Festung, also von mir, wieder absteigen kann. Ich frage ihn, warum er denn Angst habe und erfahre, dass er glaubt, die Sirene sei ein Mensch! Ich erkläre dem pfiffigen Jungen, dass die Sirene sich nicht bewegen könne, da sie eine Sache und kein Mensch sei. Sachen können sich nicht bewegen, meine ich und glaube, die Angelegenheit voll umfänglich dargelegt zu haben. Rechnung ohne meinen Sohn gemacht:

Aber Mama! Autos bewegen sich doch auch!

Ich kläre das herzallerliebste Missverständnis auf und hoffe, der Angst einen Namen gegeben zu haben und sie damit zu lindern.

Sirenen-Pilger

Seither sind wir unzählige Male zum Rathaus gepilgert, haben die Sirene betrachtet und immer wieder geklärt, dass der graue Schirm da oben nicht herunterkommen kann und nur brüllt, wenn er die Feuerwehr zum Einsatz ruft. Und beim nächsten Alarm? Das gleiche. Merlin ist jedesmal aufgebracht und zutiefst verängstigt. Ich kann mich an nichts erinnern, was diese fundamentale Furcht erklären könnte. Ok, Merlin findet laute Geräusche unangenehm. Aber Angst machen sie ihm sonst nie. Nicht einmal Dunkelheit kann dem ausgeglichenen Kind etwas anhaben.

Oma …

Eines Abends röhrt sie wieder, die Sirene. Papa Andreas und ich spielen mit Merlin in seinem Zimmer. Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie der Bube wieder auf meinem Schoß kauert. Dann fällt mir ein: Meine Großmutter ist in auf einer gerontopsychiatrischen Station (Psychiatrische Station speziell für alte Menschen) gestorben. Sie hatte Wahnvorstellungen. Vor ihrem Tod hörte sie unablässig Sirenen. Bombenalarm. Krieg. Todesangst.

Zwei sehr unterschiedliche Menschen – ein Gedanke

Andreas durchbricht die tröstende Stille, nachdem der Rathaus-Kravaller Ruhe gegeben hat:

Könnte diese Angst vererbt sein?

Ich starre ihn an – er kann tatsächlich manchmal meine Gedanken lesen! Ja. Auch ich denke in diesem Moment an die Transgenerationale Weitergabe von Ängsten. Und an die vielen Artikel, die ich darüber gelesen habe.

Exkurs Transgenerationale Weitergabe

Was genau ist Transgenerationale Weitergabe? Bereits der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud ging von einer „Gefühlserbschaft“ aus, die von Generation zu Generation weiter getragen wird. Das bedeutet, dass auch unbewußte, nicht verarbeitete Konflikte (Traumata) der vorherigen Generation an die nächste weitergegeben werden können. In welcher Intensität dies geschieht, hängt von individuellen Faktoren ab. Es gibt viele Untersuchungen, die sich mit der Transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen von Opfern und auch Tätern des NS-Regimes an ihre Nachfahren beschäftigen. Wer tiefer und wissenschaftlich fundiert in diese faszinierende Thematik eintauchen möchte, wird im Journal für Psychologie fündig. Wissen hoch2 (hr-online) bietet informative Kurz-Podcasts zum Thema.

Der wissenschaftliche Beleg?

Ich habe mich oft gefragt, ob die Transgenerationale Weitergabe wissenschaftlich zu erklären ist. Vor etwa einem Jahr entdeckte ich endlich einen Artikel, der mir die Frage zumindest in Grundzügen beantworten konnte, vollkommen entschlüsselt sind die Mechanismen der Vererbung von Erfahrungen noch immer nicht. Die Epigenetik, ein Zweig der Biologie, befasst sich mit den „weichen Veränderungen“ des Genoms durch Vererbung von Erfahrungen. Diese Veränderungen sind reversibel, umkehrbar, zum Beispiel durch Psycho- oder Gesprächstherapie. Aha. Die Erfahrung verpasst dem Genom eine Art Software! Das Genom selbst, die Hardware und ihre „Fehler“ wie zum Beispiel Trisomien, sind hingegen nicht reparabel. Diese skurrile Vorstellung eines ungeheuerlichen Prozesses machte ihn für mich greifbar. Der esoterische Hautgout war dahin – und ich wußte endlich, in welcher Ecke ich nach mehr Informationen suchen konnte.

Woher kommt die Angst?

Merlin und die Sirene – könnte die Angst unserer Herkunftsfamilien, die Kriegs- und Fluchterfahrungen die vorderhand unbegründete Angst vor Sirenen erklären, die meinen Sohn regelmäßig in tiefe Verzweiflung stürzt? Das wollte ich von meiner Traumatherapeutin wissen. Sie ist Medizinerin und Psychoanalytikerin und mag Erklärungen. Wie ich.

Es ist möglich, dass die Angst vor dem Klang einer Sirene transgenerational an Ihren Sohn weitergegeben wurde. Aber Kinder entwickeln auch einfach Ängste. Das gehört zu ihrer psychischen Reifung. 

Es ist im Grunde genommen egal, ob Merlin seine Angst geerbt oder durch eigene Erfahrung ausgebildet hat. Oder ob sie einfach ein Teil der gesunden kindlichen Entwicklung darstellt. Hauptsache ist, dass wir sie bemerken, ernst nehmen und Merlin in seiner Angst begleiten. Und es ist schön, dass er uns Eltern spiegelt und wieder einmal aus der Komfortzone ausgetretener Denkpfade gelockt hat. Ein echter Merlin.❤️

Weitere Links zum Thema:

Was denkt ihr über die Transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen? Habt ihr ähnliche Erlebnisse gemacht wie wir? Ich bin gespannt auf eure Kommentare.

Eure Tanja


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