
Manfred Spitzer hat wieder ein Buch über das Internet und seine „Risiken und Nebenwirkungen“ geschrieben. Warum ich „Cyberkrank!“ schrecklich finde und es doch unbedingt empfehle, lest ihr in meiner Rezension.
Manfred Spitzers „Cyberkrank“ – ein weiser Führer durchs Cyberspace?
Wäre Manfred Spitzer ein Maler, dominierte tiefes Grau, zuweilen Schwarz seine Werke. Hin und wieder würde ein Spritzer Weiß die Dunkelheit zerreissen, was sie um so mächtiger erscheinen ließe. Ein wenig Rot, ein fahriger Strich von Gelb. Spitzer ist kein Maler und er ist auch kein Schriftsteller. Dr. Dr. Prof. Manfred Spitzer ist Wissenschaftler und Psychiater. Er schreibt Bücher, um seine Erkenntnisse mit denjenigen zu teilen, die sich für die Welt und die Stoffe, aus denen sie ist, interessieren. Spitzer inszeniert sich als Aufklärer und Mittler zwischen Wissenschaft und Bildungsbürgertum, das seine Kinder gut durch das 21. Jahrhundert navigieren will.
Klare Linie
Der Hirnforscher Spitzer lässt sich Zeit, seine Thesen zu entwickeln. In 13 Kapiteln referiert er über Cybersucht, Big Data, Cyberstress. Kurz, über alle und alles, die seiner Meinung nach cyberkrank machen. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis genügt, um den Grundton des Buches zu erfassen, wenn nicht bereits der Titel für Aufklärung sorgt.
Mein Freund Sascha Lobo
Das Buch Cyberkrank! ist ein fast 500-seitiges Misstrauensvotum an das Internet. Bevor sich die Leserschaft herantasten kann, kommt ihnen Spitzer vorauseilend entgegen. Per Amazon-Statistik versucht er aufkommende Zweifel an seinen Thesen zu entkräften: Die Verkaufszahlen und Bewertungen hätten sich nach dem ersten Shitstorm ins Gegenteil verkehrt. Vier Seiten lang rechtfertigt er sich für seine Thesen, anstatt auf ihre Richtigkeit zu vertrauen. Auf Seite 11 erfahren Leser und Leserin, dass Spitzer glaubt, in Sascha Lobo mittlerweile einen Verbündeten gefunden zu haben.
Sogar Internet-Befürworter wie der Blogger und Journalist Sascha Lobo, die mich noch vor drei Jahren vehement wegen meiner kritischen Haltung angegriffen haben, schlagen mittlerweile kritische Töne gegenüber moderner Informationstechnik an.
Er vergisst dabei, dass Sascha Lobo ein kluger Kopf ist, der jedem Ding mindestens zwei Perspektiven abgewinnen kann. Risiken, ja. Aber auch Chancen, wenn sich jede und jeder Einzelne den neuen Medien, die gar nicht so neu sind, bewusst zuwendet.
Von Spitzer lernen
Bevor es richtig losgeht mit der Dystopie, dem pessimistischen Blick auf das, was das Cyberspace mit uns Menschen treibt, verliert sich Spitzer in pathetischer Anklage.
Wir dürfen weder die Köpfe noch die Gesundheit unserer Kinder dem Markt überlassen!
Bis man zu dem vordringt, was interessieren, fesseln oder erhellen könnte, hat Spitzer die Digitale Demenz * bereits beschworen. Appetitanregend ist das nicht. Soviel Pessimismus kann Ängste schüren: Was genau sind oder haben die digitalen Medien, dass sie Kinder in die Smartphone Sucht treiben und ihnen den Verstand rauben? Wie können wir uns davor schützen?
Ist das Smartphone also dabei, eine ganze Generation im Hinblick auf Bildung und Gesundheit zu gefährden?
So berechne ich meinen BMI
Martin Spitzer ist ein gründlicher Mann. So gründlich, dass er die Entstehung von Übergewicht durch Fernsehkonsum so detailliert beschreibt, dass Leserin und Leser am Ende sogar ihren BMI korrekt berechnen können. Dazu liegen ihnen sämtliche Statistiken vor, die sie im besten Fall nach drei Sekunden wieder vergessen. Schließlich serviert Martin Spitzer bereits den nächsten Gang. Dieses Mal per Diagramm.
Verschwörungstheorien 2.0
Wer Martin Spitzer genau zuhört und dringend einen Schuldigen sucht für das Cyberdilemma, macht reiche Beute. Schuld am Debakel um das Internet, dessen absolutistische Herrschaft es sich laut Spitzer längst in zu vielen Köpfen bequem macht, sind in Wahrheit die Großkonzerne und Oligarchen. Sie machten unsere Kinder mit virtuellem Brot und Ballerspielen gefügig und willenlos, um ihren Profit zu sichern.
Aber zugleich sorgt eine sehr effizient im Verborgenen arbeitende Lobby dafür, dass wir jeden Tag medial mit Meldungen bombardiert werde, wie wichtig und nützlich digitale Medien in allen Lebensbereichen sind: (…)
Spitzer hat auch gar nicht so unrecht – es ist wichtig, sich der Macht- und Lobbystrukturen bewusst zu sein. Die Frage ist, was daraus folgt. Wir können uns verbarrikadieren, abschotten und gegen Google, Facebook und Snapchat kämpfen. Und wir können uns auch einlassen, in Dialog gehen, untersuchen und analysieren. Einen Cyberkrieg vom eigenen Zuhause aus anzuzetteln ist eine fragwürdige Strategie.
Der Feind im Computer
Martin Spitzer nutzt für seinen Feldzug kriegerische Metaphern. Er belehrt in wenig gefälligen Sätzen, die nach der dritten Zeile immer noch nicht enden wollen. Oft steht an ihrem Ende ein Ausrufezeichen – anscheinend benötigen die Aussagen Nachdruck, damit die Leserschaft ihnen Glauben schenken kann.
Und in Bildungseinrichtungen von Kindertagesstätten über Schulen bis zu den Universitäten, wird Front gegen die vielfachen digitalen Ablenkungen gekämpft, während zugleich von den Verantwortlichen im Hintergrund die Anschaffung von noch mehr Hardware geplant wird. Absurde Zustände!
Sein Humor ist nicht immer sehr witzig und hinterlässt manches Mal das Gefühl, dass Herr Spitzer aus der Zeit gefallen ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ihm nicht nach lachen zumute ist. Gelegentlich entsteht die Komik unfreiwillig: Ist ein Jazzer kein Musiker?
Musiker erleben Flow bei Aufführungen, Jazzer beim Improvisieren, (…)
Wer ist Martin Spitzer wirklich? Woher kommt die Angst?
Angst und Ohnmacht sind der Tenor von Cyberkank!. Woher sie kommen, lässt sich nur mutmaßen. Martin Spitzer scheint ein trauriger und verletzter Mensch zu sein. Einer, der irgendwo in seinem Leben zu kurz gekommen ist. Einer, der sich beschützen will und die Welt und ihre Bedürfnisse mit seinen eigenen verwechselt. Oft spricht ein verletztes Kind aus diesem Buch, das im eigenen inneren Kind von Leserin oder Leser vielleicht ein Echo findet. Spitzers neustes Buch handelt von Einsamkeit* .
Nicht immer hat man im Leben Glück, und so hatte ich in den vergangenen drei Jahren eine recht schwere Zeit (Dank).
Ein Buch muss nicht gefällig sein um zu gefallen. Eltern und Menschen, die mit Kindern in Kontakt stehen, sollten das Kriegsmanifest gegen die die „neuen Medien“ von Martin Spitzer unbedingt lesen. Es enthält verblüffende Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Medizin und anderen Disziplinen. Dass Röntgengeräte in den Schuhabteilungen Kinderfüße bis weit in die 70er Jahre durchleuchteten, ist nur eine der vielen Skurrilitäten aus dem Wissens-Fundus von Martin Spitzer. Wir dürfen unsere eigenen Schlussfolgerungen aus Spitzers Thesen ziehen, das eigene Medienverhalten überprüfen. Manchmal macht es Sinn, sich von Perspektiven inspirieren zu lassen, die den eigenen entgegenlaufen. Das bringt frische Gedanken, neue Erkenntnisse und macht Zusammenhänge bewusst. Martin Spitzers Buch Cyberkrank! ist wie eine bittere Pille, deren wenig attraktiver Geschmack in Vergessenheit gerät, sobald sie beginnt zu wirken. Vorsicht vor den „Risiken und Nebenwirkungen“. Über die steht leider nichts im Klappentext.

Martin Spitzer hat seine Vorstellungen. Wir haben unsere.
Über den Autor
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte Medizin, Philosophie und Psychologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Eigenen Aussagen nach verdiente er seinen Lebensunterhalt während dieser Zeit u. a. als Straßenmusiker. Nach dem Diplom in Psychologie und Promotionen in Medizin und Philosophie habilitierte er sich für das Fach Psychiatrie. Spitzer war an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg Oberarzt und zweimal Gastprofessor an der Harvard University. 1997 wurde Manfred Spitzer auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm berufen und war damit der bis dato jüngste Professor der Psychiatrie Deutschlands. Kurze Zeit darauf wurde Spitzer Herausgeber der Fachzeitschrift Nervenheilkunde.
Spitzer wurde durch populärwissenschaftliche Vorträge und Bücher bekannt. Von 2004 bis 2012 strahlte der Bayerische Rundfunk die Serie Geist & Gehirn aus, in der Spitzer Erkenntnisse aus der Gehirnforschung vorstellte.[/vc_column_text][/vc_column][vc_column width=“1/2″][vc_column_text css=“.vc_custom_1528912027178{margin-bottom: 50px !important;}“]
Über das Buch
Titel: Cyberkrank!*
Autor: Manfred Spitzer
Verlag: Droemer
Genre: Sachbuch
Erscheinungsdatum: 01. August 2017
ISBN: 3426301040
Format: Taschenbuch
Preis: 12,99 Euro
Tipp Ich halte Manfred Spitzer trotz aller Kritik für einen seriösen Wissenschaftler. Seine Ausführungen über das, was Musik im Kopf * macht im besten Sinne für gelungen. Ein schönes Buch als Geschenk für musikalische Familien oder diejenigen, die sich mit Musik beschäftigen möchten.
Mich hat das Buch Cyberkrank von Martin Spitzer wochenlang beschäftigt. Es hat mich entsetzt, erstaunt, bewegt und wütend gemacht. Fast wie ein guter Roman. Das halte ich dem Autor zu Gute: Er hat es geschafft, dass ich über mein Netzverhalten aus einer neuen Perspektive nachdenke und mich nach der Lektüre klüger fühle. Vielleicht wäre es ein richtig gutes Buch geworden, hätte der Autor mehr Talent, den Dingen etwas Gutes abzugewinnen. Wie geht es euch mit dem Thema Mediennutzung in der Familie? Lest ihr dazu Bücher oder besucht Vorträge?
Ich wünsche euch eine gute Zeit – vor dem PC, im Wald und überall dort, wo ihr euch wohl fühlt.
Alles Liebe,
Eure Tanja
Tipp Wir haben das Glück, einen Medienreferenten in der Familie zu haben. Einer, der seine Strategien aus einem zutiefst positiven Menschenbild schöpft, ohne den Blick für die Realität zu verlieren. Wenn du Lust hast kannst du in meinem Interview mit Maik Rauschke nachlesen, was er zur Mediennutzung in der Familie sagt. Ein wohliger Kontrast zu Manfred Spitzer.
Mein herzlicher Dank gilt dem Droemer Verlag für das kostenfreie Rezensionsexemplar.
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