
Liebe & Wertschätzung – es hat mich eiskalt erwischt. Mich, die Kopftante, die Analytikerin. Die, die sich Gefühle gern vom Hals und Herzen hält. Ich habe heute etwas entscheidendes gelernt. Wer der Spiegel war? Unser Kindergarten, von dem wir uns heute verabschiedet haben.
Very happy …
Seit einigen Wochen warte ich auf den einen Anruf. Auch, wenn der erst im März zu erwarten war, kam er tatsächlich Ende September: Im Naturkindergarten ist ein Platz frei geworden – Merlins Platz. Eine Woche lang schwebe ich vor Freude, Merlins Schnuppertag zwischen Kaninchen, essen unter freiem Himmel und selbstzubereitetem Bio-Frühstück ist ein voller Erfolg. Er bekommt den Platz. Nun geht es schnell. Wollwalk-Pullis und Arbeitshosen; Trinkflaschen aus Metall und wetterfeste Schuhe trudeln hier nach und nach ein. Ich bin mir meiner Sache sicher.
Die erste kleine Wolke …
Am Dienstag sagen wir im Kindergarten Bescheid, dass Donnerstag Merlins letzter Tag dort sein wird. Am Freitag kommen nämlich Onkel und Tante zu Besuch und danach machen wir eine Woche Ferien in den Bergen, bevor er Mitte Oktober Naturkindergarten-Kind wird. Merlins Bezugsbetreuerin aus der Kita – wir haben immer noch engen Kontakt – ist ganz bestürzt. Auch die anderen Betreuerinnen aus dem Kindergarten stehen mit offenen Mündern und hochgezogenen Augenbrauen da und wissen nicht, was sie sagen sollen.
Ich freue mich für Sie – aber gerade der Merlin … ich werde ihn vermissen.
Ich habe mit nichts gerechnet. Nur mit dem Einwand, dass wir die Kündigungsfristen eventuell nicht einhalten würden. Dass uns auch Gefühle und spontane Reaktionen zuteil werden könnten – nein, daran hatte ich nicht gedacht. Ich verspreche in meiner Überraschung einen Abschiedskuchen oder Pudding und gehe nachdenklich mit meinem kleinen Jungen an der Hand nachhause.
Das ist ja Liebe!
Am Mittwoch verdichtet sich die emotionale Wolkendecke – denn das Bedauern und die Liebe, die ich von allen Seiten in diesem Kindergarten spüre, in dem ich persönlich nie richtig angekommen bin (in der Kita war es anders), überwältigt mich. „Gerade der Merlin! Das ist aber schade …“ sagt die blonde Frau mit den fröhlichen Augen und drückt mein Kind ganz fest an sich, das sich gern umarmen lässt. Ein Donnern kracht aus den Wolken, die meine Sicherheit, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, umgeben. „Das ist ja Liebe!“ denke und vor allem fühle ich. Und das ist eine Liebe, für die ich nicht bezahlt habe. Es ist eine, die meinem und vielen anderen Kindern freiwillig und aus vollem Herzen entgegengebracht wird. Eine, die keine Gegenleistung fordert – nicht einmal, dass das Kind anwesend, Teil des Kindergartens ist.
Von guten Freunden
Mit meiner dicken, grauen Wolkendecke und meinem Kind im Schlepptau gehe ich nachhause. Am Abend macht RiskyDad zwei große Töpfe Pudding (eigentlich macht es der Thermomix, die kochende Klobrille), den wir am nächsten Morgen samt Kind dort abgeben. Nachmittags pilgere ich ein letztes Mal zum Kindergarten. Merlin hüpft auf dem Trampolin im Garten – sein Lachen höre ich schon, bevor ich um die Ecke biege. Meine Wolken habe ich natürlich dabei – die wollen mir seit zwei Tagen und Nächten nicht mehr von der Pelle rücken. Ich mag die Wolken. Sie sind wie echte Freunde, die mit der Wahrheit nicht sparsam sind.
Abschied
Merlin sammelt seine letzten Sachen zusammen, saust durch die Flure. Hände streicheln über sein Köpfchen und er bringt mir freudestrahlend eine Reihe von kleinen Geschenken. Es blitzt und donnert aus dem dunkelgrauen, fast schwarzen Himmel. Ich möchte weinen.
Wie konnte ich die Liebe übersehen, die Merlin in diesem Kindergarten bekommt?
Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, so schnell einen Abschied vorzubereiten. Wie konnte ich ihnen zumuten, sich nicht an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihre Gruppe ab Freitag eine andere sein wird? Jetzt gesellt sich auch noch der Nieselregen schlechten Gewissens zu Blitz und Donner. Es dauert eine Stunde, bis wir uns loseisen können – bis ich mich loseisen kann. Für Merlin ist die Sache klar – bald ist er ein Naturkindergarten-Kind!
Dankbar & traurig
Am Abend packt er das kleine Geschenk aus. Es ist eine Lupe, mit der mein neugieriger kleiner Junge all die Käfer, Würmer und Bienen studieren kann, die ihm demnächst täglich über den Weg krabbeln und fliegen werden. In diesem Moment bin ich dankbar – und traurig.
Mama, die Verwalterin
Gerade rief meine Freundin an und gratulierte mir zum Kindergartenplatz. Sie wollte wissen, ob ich meine Entscheidung bereue, nachdem ich unverständliche Worte ins Telefon schluchzte. Nein, ich bereue die Entscheidung nicht. Ich möchte nur achtsamer mit den Menschen umgehen, sie nicht in die starren Konzepte meiner Vorstellungen und Ideale pressen müssen. Für mich war der Gemeinde-Kindergarten nur eine Übergangslösung. Ich hatte mich weder auf die Gruppe noch die Betreuerinnen eingelassen, in die Merlin Anfang September gewechselt ist. Sie sollten Merlin verwalten, bis das „echte Kindergartenleben“ für ihn beginnen kann.
Liebe gibt’s immer gratis
Diese Art des Umgangs hat nichts mit meinen Idealen von Augenhöhe, Wertschätzung und gegenseitiger Achtung gemein. Ich habe mich so verhalten, wie ich es oft denen vorwerfe, die konventionelle Betreuungskonzepte propagieren und umsetzen. Auch im Naturkindergarten wird nicht alles perfekt sein – so wie es hier nicht perfekt war und wie es bei uns zuhause nicht perfekt läuft. Aber es geht auch gar nicht um Perfektionismus. Es geht um die Fähigkeit, sich auf das Gute zu konzentrieren und es zu spüren. Und es geht vor allem darum, dass wir manchmal übersehen, dass die Betreuerinnen und Betreuer trotz aller Fehlbarkeit unseren Kindern und auch uns mit Liebe begegnen, die sie uns jenseits der Betreuung schenken. Es wäre schön, wenn wir daran öfter denken könnten – und einander daran erinnerten. Dann braucht’s auch diese inneren Gewitter nicht mehr.
Eure Tanja
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Wie wundervoll, dass die wenn auch kurze Zeit für ihn voller Liebe war. So war der Abschied vielleicht Schmerzhaft aber auch schön. Ich drücke die Daumen, dass er jetzt im Naturkindergarten genauso viel Glück erfahren wird.
Liebe Sarah, ich danke dir! Genau so empfinde ich es auch – wenigstens zum Schluss konnte ich das Geschenk wertschätzen. Und Erkenntnis ist halt manchmal schmerzhaft. Ich berichte aus dem Naturkindergarten!