
Kindermärchen – ich will dem Zauberer eine kurze Gute Nacht Geschichte erzählen. So, wie es mein Vater vor vielen Jahren für mich tat. Merlin wünscht sich eine über „Djan, die kleine Katze“. Daraus entsteht zwischen uns ein berührendes Gespräch über Liebe, Leben und Tod. Ein kostbares, unerwartetes Geschenk, das uns noch lange begleitet.
Das Kindermärchen der kleinen Katze Djan, die ihren Schwanz verlor
Fast weiß ist das Sonnenlicht, das seine Strahlen wie dünne Arme durch die winzigen Ritzen des Holzhäuschens steckt. Die kleine Katze Djan reckt sich wohlig – was für ein herrlicher, sonniger Tag. Plötzlich blickt sie mit smaragdgrünen, vor Schreck weit aufgerissenen Augen auf die Stelle, wo gestern noch ein buschiger Schwanz in den Himmel ragte. Djan reibt sich die Augen mit den weichen Tatzen: Ihr Schwanz ist weg!
Sie sucht ihn hinter dem Feuerholz, wirft hoffnungsvoll einen Blick in den erloschenen Kamin. Nichts. Ihr Schwanz, fast so elegant gestreift, wie der eines Tigers, ist einfach verschwunden. Ratlos und ganz erschöpft vom Suchen rollt sie sich zusammen auf ihren Platz vor dem Kamin. Auf einmal kommt der kleinen Katze eine Idee.
Ich kann doch die kleine Hexe fragen, die im Wald wohnt und immer so lustig lacht!
Djan springt auf und öffnet mit einem Tatzenschlag die Holztür, die sich knarrend und quietschend öffnet. Die kleine Katze saust so schnell sie kann zwischen den Bäumen entlang, springt über Geäst geradewegs der Sonne entgegen. Sie ist nicht so flink und geschickt wie sonst, denn ohne Schwanz kann sie schlecht balancieren. Schwups, da fällt sie auch schon vom Baumstamm. Sie schüttelt und reckt sich kurz und weiter geht es Richtung Hexenhaus. Plötzlich steht sie ganz außer Atem auf einer Lichtung vor dem windschiefen Häuschen der kleinen Hexe, die immer so lustig lacht.
Miauuuuu
maunzt Djan, aber niemand öffnet die Tür. Sie drückt sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die niedrige Pforte. Es kracht, als ob ein großer Ast von einem Baum herunter gebrochen wäre und die sie springt auf. Djan hüpft erschrocken hinein – und was sieht sie? Die kleine Hexe steht vor einem riesigen Topf, bestimmt dreimal so groß wie die Hexe. Es dampft und brodelt, dicker Nebel hängt in der Stube. Die kleine Hexe rührt und dreht den Kochlöffel zu einem lustigen Lied.
Lühüüüü, du gelbes Drachenblut, tust Husten und dem Schnupfen gut. Heile fluchs den ganzen Kram, sonst bin ich heiser und ganz lahm.
Puff und bum. Es knallt und blitzt und die Hexe hustet wie verrückt. Dann wird es still.
Was gibt’s denn, Djan, du kleine Katze? trällert die Hexe und springt dem Kätzchen direkt vor die Füße.
Ach, du Schreck, ich sehe schon, dein Schwanz ist weg!
Djan erzählt der Hexe die ganze Geschichte. Und was macht die? Sie lacht und lacht und lacht, als wenn sie jemand furchtbar kitzeln würde.
Das waren sicher wieder die Zwerge! Die verlieren andauernd ihre Kopfkissen im Wald. Sie holen sich manchmal nachts die weichen und buschigen Schwänze der Katzen, wenn die schnurrend vor dem Ofen schlummern. Warte, ich hole ihn dir zurück. Vielleicht könnte ich ihnen ein besseres Gedächtnis zaubern, damit sie euch arme Katzen nicht mehr bestehlen!
Dann kracht und blubbert’s im Topf. Ganz plötzlich schnappt die Hexe Djan am Fellkragen und wirft sie, schwups, in den Zaubertopf hinein. Blubb, blubb, da taucht die kleine Katze in das Kräuterbad. Igitt, die arme Djan! Katzen baden nämlich gar nicht gern.
Lühüüü, ihr frechen, kleinen Zwerge, habt ihr Djan den Schwanz gestohl’n? Ha! Ihr Wichte, auf dem Berge, den werd‘ ich ihr wiederhol’n. Sollt ab jetzt nichts mehr vergessen, nichts mehr stehlen, nichts wegfressen.
Puff und peng, da fliegt die Katze durch das ganze Hexenhaus. Als ob jemand, plopp, auf einen Ausschalt-Knopf gedrückt hätte, ist es auf einmal ganz still. Djan, die kleine Katze, sitzt verdutzt auf dem Sofa … um sie herum liegt wie ein halber Kranz ihr buschiger Schwanz!
Miauu, juhuuu, miauuuuu, ich danke dir!
maunzt Djan und streift voller Freude schnurrend um die Beine der kleinen Hexe. Was die macht? Sie lacht so laut, dass das Geschirr in den Schränken ein Lied dazu klirrt.
Als Djan endlich wieder zuhause ist, rollt sie sich erschöpft zusammen auf ihrem Platz vor dem Ofen. Sie ist so müde von dem langem Weg und der Zauberkunst der kleinen Hexe.
Fast weiß ist das Sonnenlicht, das seine Strahlen wie dünne Arme durch die winzigen Ritzen des Holzhäuschens steckt, als sie wieder erwacht. Djan schaut ängstlich nach, ob der Schwanz noch an seinem Platz ist: Ganz kuschelig liegt er um das Kätzchen herum und wärmt es.
War der Schwanz wirklich weg, oder habe ich das nur geträumt?
fragt sich Djan, die sich plötzlich freut über ihre Beine, die sie jeden Tag durch den Wald tragen. Über die Schnurrhaare, die ihr Tag und Nacht helfen, den richtigen Weg zu finden. Und über die spitzen Ohren, die sie vor Gefahr warnen. Zufrieden schließt sie die Augen, um noch ein wenig vor dem Ofen zu dösen. Djan, die kleine Katze, hat alles, was sie braucht zum Leben. Auch einen prächtigen, wärmenden Schwanz.
Epilog zum Kindermärchen
Heute bleiben wir eine Weile wach, bis der Zauberer (3) in den Schlaf findet. Denn es gibt einiges zu besprechen …
Ein Märchen für Mama
Tanja Und du hast auch alles, was du brauchst, um zu leben: Arme, Hände, Beine, ein Herz …
Zauberer Ich sterbe nicht, Mama? Aber wenn ich alt bin, sterbe ich.
Tanja Ja, alle Menschen sterben, wenn sie alt sind.
Zauberer Dann sind irgendwann keine mehr da!
Tanja Damit das nicht passiert, bekommen Menschen Kinder.
Zauberer Und ich sterbe auch irgendwann. Mama und Papa sterben auch, wenn sie alt sind. Aber dann habe ich keine Mama und Papa mehr (aufgebracht)
Tanja Ja, Merlin, Mama und Papa sterben auch. Aber das dauert noch sehr lange.
Zauberer Wenn du gestorben bist, bekommst du noch Kinder. Und mein Papa auch. (erleichtert)
Tanja Nein, Menschen können nur Kinder bekommen, wenn sie leben. Ich habe ein Kind bekommen und das bist du. Später bekommst du Kinder.
Zauberer Und wann kommen die raus?
Tanja Das dauert fast ein Jahr. Einmal Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Zauberer Und du warst auch ein Baby.
Tanja Ja, wir alle waren Babys.
Zauberer Und Kinder! Und wo sind die geboren?
Tanja Mama in Heidelberg und Papa in Tübingen. Du bist in München geboren.
Zauberer Ich möchte auch mal nach Tübingen!
Tanja Da können wir mal hinfahren.
Zauberer Wie heißen die Menschen da?
Tanja Ich kenne niemanden in Tübingen.
Zauberer Ich möchte da hin.
Pause.
Zauberer Mama, ich hab’ dich lieb. Ich habe alle Menschen lieb.
- Seit Wochen ist Merlin die alte Katze Lili – wo’s wohl herkommt?
- Merlin hat viel Geduld mit Katzen …
- Mit Hunden aufgewachsen, mit Katzen seelenverwandt
Realitätscheck – wer oder was ist sterblich?
Der Tod begleitet uns, seit Merlin mit zweieinhalb Jahren zwei kleine Vögel entdeckte, die aus dem Nest gefallen waren. Das war Merlins erste Begegnung mit dem Tod. Seitdem überprüft er alles und jeden auf seine Sterblichkeit. Dass ein Bagger nicht sterben und toten Vögeln kein Tierarzt helfen kann, hat sich für ihn zur Wahrheit formiert. So wahr der Tod für (dreijährige) Menschen sein kann.
Kinder Märchen mit Nebenwirkung
Dieser Abend verändert etwas in mir. Es ist, als wäre der Tod aus den Krimis, meiner Erinnerung und den 1001 Nacht Märchen auf meine Schulter, in mein Bewusstsein gekrochen. Dort sitzt er, erinnert mich daran, dass die Menschen, die in unserem alten Bauernhaus gelebt haben, Träume und Wünsche hatten. Und nun sind sie tot. So, wie wir Sehnsüchte haben und das Gefühl, wir hätten ewig Zeit, sie uns und den Menschen, die wir lieben, zu erfüllen. Das haben wir nicht.
Kinder schauen auf den Tod wie alte, weise Menschen. Sie haben keine Angst vor ihm, sie wollen ihn ergründen.
Meine Freundin, sie ist Neurologin und hat eine Palliativ-Zusatzausbildung, sieht fast täglich Menschen sterben. Sie sagt, dass viele alte Menschen nicht loslassen können. Etwas Unerledigtes quält sie. Kinder hingegen machen sogar ihren Eltern Mut, die verzweifelt um ihr Kind weinen, das im Sterben liegt.
Der Tod aus Grimms Märchen
Ich möchte diese Lektion nicht hinter mit lassen. Soll er sitzen bleiben, der Tod auf meiner Schulter. Soll er mich, wann immer er meint, erinnern, dass er Teil meines Lebens ist. Die erste Hälfte dieses Lebens habe ich gelebt. Wie will ich die zweite erleben, woran möchte ich mich erinnern, wenn mein Leben zu Ende geht? Mit welchen Menschen will ich meine Zeit verbringen? Wo lohnt es sich zu kämpfen, lohnt sich Kampf überhaupt?
Kindermärchen – die Zeit steht still
Vor lauter Arbeit und der Angst, irgendetwas oder irgendwem nicht zu genügen, verliere ich manchmal den Blick für das, was in meinem Leben wichtig ist. Ich verliere den Fokus, ich verliere mich. Seit Merlin da ist, flankiert von meinen unbestechlichen Hunden, ist es unmöglich geworden, vorwärts zu gehen, ohne stehen zu bleiben, mich umzusehen, zu warten, Neues zu probieren. Es ist für mich oft nicht leicht, das auszuhalten. Morgens, wenn wir zum Bulli gehen, dauert es seine Zeit, bis Merlin jedes Blatt, jedes Stöckchen, jeden Vogel gewürdigt hat, die uns auf den 10 Metern Weg begegnen.
Märchen vorlesen, Kindermärchen erfinden – warum?
Ich möchte der Langsamkeit, der Fantasie und der Neugier nachgeben. Und darum werden wir wieder und wieder Märchen für Kinder lesen und Wimmelbücher mit Märchen Geschichten füllen. Und wir denken uns Kindermärchen aus mit den unmöglichsten Protagonisten. Bagger treten im Rennen gegen Omas an und verlieren natürlich. Ich glaube an die heilende Macht von Märchen, Fabeln und Geschichten, die wir Menschen einander seit Jahrtausenden am wärmenden Feuer erzählen. Seit dem 20. Jahrhundert hat das Lagerfeuer Konkurrenz bekommen: den Fernseher. Ich hadere nicht mit dem Kasten und seinen vielfältigen Spielarten. Ich setze ihm Märchenbücher und Fantasie Geschichten entgegen.
Warum Kinder Märchen brauchen
Gerade Kindermärchen bieten einen unerschöpflichen Vorrat an Möglichkeiten, Gefühlen und Trost. Ganz von selbst entsteht Empathie mit dem kleinen Mädchen, das seine Eltern verloren hat, nichts zu essen und keine Kleider am Leib trägt. Alles, was wir nicht selbst erleben oder noch nicht erlebt haben, machen Märchen für Kinder und Erwachsene greifbar. Und sie helfen uns, Erlebtes einzuordnen, zu kategorisieren, ja, in eine Schublade abzulegen. Im besten Fall werden Märchen zu unserem orientalischen Basar der Gefühle und Werte, die sich kontinuierlich verändern, wo wir uns austauschen, intuitiv überprüfen, ob heute noch gilt, was gestern richtig war.
Märchen sind der lange Arm von Heldinnen und Helden; Feen und Zauberern in uns.
Und mein neuer Freund, der Tod, wird mich daran erinnern, innezuhalten, wenn ich mal wieder glaube, keine Zeit zu haben für diejenigen, die ich liebe und die Dinge, die mich nähren. Wie Märchen zu erzählen.
Ob es unsere Gute Nacht Geschichte zum Ausdrucken gibt? Na klar, hier entlang.
Es gibt kostenlose Hörspiele von Grimms Märchen online! Sie sind zwar etwa steril vorgetragen, aber so what. Um herauszufinden, was für dein Kind und eure Lebenssituation passt, ist die Sammlung ein guter Anfang. Noch mehr Einschlafstoff? Findet ihr hier von meiner Kollegin-Freundin Kuchenerbse.
Wie geht es dir mit Gedanken an den Tod? Ist dir das eher lästig, weil es gerade nicht dran ist oder interessieren sich deine Kinder auch gerade fürs Sterben und den Tod? Was macht das mit dir? Weil es ein intimes Thema ist, schreibe mir gern eine Mail. Natürlich freue ich mich auch über Kommentare.
Komm‘ gut in die zweite Adventswoche!
Deine Tanja