
Kindererziehung – bevor ich Mutter wurde, war die Sache klar. Erziehungsmethoden müssen funktionieren, Kinder sowieso. Als ich irgendwann im Zug saß, wurde mir klar, wie sehr uns Perspektiven oft die Sicht vernebeln.
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Wie geht Kindererziehung? – Mit Ohropax.
Ich gehe 7, 8 Jahre zurück. Für mich war Zugfahren ohne Ohropax undenkbar. Meine Ruhe war mir heilig – und Kindergeschrei inakzeptabel. Seit ich auf die Idee mit den Stöpseln kam, habe ich mir aufreibende Diskussionen mit überforderten Müttern von scheinbar unerzogenen Kindern zumeist gespart. Dieses ewige Hin- und Herlaufen, das Gequietsche und die klebrigen Hände mit Bananen- oder Sonstwasresten dran: Bäh!
Manchmal hatte ich keine Lust, 8 Stunden nonstop meinem eigenen Blut beim Fließen zuzuhören. Ich sorgte für Ruhe, indem ich rummotzte, im Feldwebel-Ton drohte, die Wurst zu entsorgen, mit der das Kind ungerührt meinen Sitz patinierte. Kurz: Ich verschaffte mir Respekt bei den kleinen Tyrannen und ihren hilflosen Hausfrau-Müttern.
Kindererziehung: Hochkultur gegen Trotzphase
Ich las leidenschaftlich gern im Zug. Manchmal studierte ich lauthals meine Noten und sang mich ein, wenn der Zeitplan außer Kontrolle geriet. Es war mir schleierhaft, weshalb mich böse Blicke, Zetern und ganze Abteil-Revolten trafen. Operngesang ist Hochkultur, fand ich, weit entfernt von Ruhestörung!
Diese Übermütter – eine strenge Erziehung muss her!
Besonders grässlich fand ich Mütter, die ihre Mutterschaft wie das Schwert der Jeanne d’Arc vor sich hertrugen. Sie erwarteten, dass alle beim Anblick des kostbaren Nachwuchses in die Knie gehen. Gibt’s doch wohl nicht! Wieso soll der Stress einer Mutter oder eines Vaters schwerer wiegen als meiner? Besonders im Zug traf ich auf für mich schlimme Exemplare. Wer nicht sofort Platz machte, wenn das hochwohlgeborene Duo den Raum betrat, bekam es nach verächtlichen Blicken mit der Schlechtes-Gewissen-Keule zu tun. Zum Glück war ich dagegen immun. Sowas von.
Kindererziehung: Jedes Kind kann schlafen lernen
Meine ehemaligen Stiefkinder, also die Söhne meines Ex-Freundes, waren zum Glück früh mit Baby Erziehung in Berührung gekommen, die mir damals passend erschien. Mich faszinierte, dass sie nachts nie aufstanden. Sie wollten kein Wasser trinken, hatten scheinbar keine Angst vor Monstern und schlichen sich höchstens leise und unbemerkt zur Toilette. Kein Wunder! Ihre Eltern hatten das Buch (Achtung, Spoiler!) Jedes Kind kann schlafen lernen studiert. Damals glaubte ich, das sei konsequente Erziehung. Solche Hilfen zur Erziehung wollte ich mir auch besorgen, wenn ich irgendwann ein Kind bekommen würde.
Erziehungsberatung aus dem 20. Jahrhundert
Als ich Mitte, Ende dreißig war, traute ich mich das erste Mal, ernsthaft über ein Kind nachzudenken und zu -fühlen. Ich merkte mir die wirksamen Kniffe und Tricks aus der Kindererziehung. Besonders das, was schnell zu wirken schien. Grenzen zu setzen bei Kindern schien mir besonders wichtig, um gut vorbereitet ins späte Mamaglück zu starten.
Kinder wollen keine Grenzen, Kinder wollen Kontakt. (Jesper Juul)
7, 8 Jähre später stieg ich wieder in einen Zug. Der kam 20 Minuten zu spät und war verstopft wie die A9 am Freitagnachmittag. Als wir, der Mann, Merlin und ich, samt Gepäck eingestiegen waren, mussten wir warten. Die Leute fanden ihre Plätze nicht, brauchten ewig, ihr Zeug zu verstauen. Einen Plan, wie sie einander effektiv aus dem Weg gehen könnten, hatten sie auch nicht. Nach anfänglichem Verständnis meckerte ich ungeduldig los, in vorwurfsvollem, leicht aggressivem Ton:
Würden Sie sich beeilen, ich möchte mein Kind endlich aus dem Gang bringen. Es will schlafen!
Ups. Die Mitfahrer*innen reagierten nicht – oder so wie ich damals, als mich Mütter mit ihrer Not belästigten. Wir brachen uns Bahn in der Bahn bis zum Eltern-Kind-Abteil. Und das war vollgestopft mit jungen, kinderlosen Menschen. Und die wollten wie wir irgendwo sitzen und ankommen. Spät-Mama-Jeanne d’Arc holte unverhohlen ihr Schwert raus, um die Truppe ihrer Sitzplätze zu berauben. Ich weise halbhöflich darauf hin, dass Eltern die Plätze für ihre Kinder und sich einfordern können.
So bettet weich das Prinzchen …
Als wir uns sortiert hatten und die jungen Leute im rechten Teil des Eltern-Kind-Abteils zusammengerückt waren, kehrte Ruhe ein. Ruhe, um den Gedanken zuzulassen, wie sehr und wie oft mir die eigene Perspektive die Sicht vernebelt. Was hätte ich wohl früher zu Eltern gesagt, die sich wie wir gerade drei Mal umentschieden haben und das nicht gerade im Flüsterton? Du kannst es dir denken.
Wie tolerant, zuvorkommend und zivilisiert sind diese jungen Leute neben uns. Sie beschweren sich mit keinem Wort, räumen die Plätze und stören sich nicht am Familien-Zirkus.
7 Jahre oder ein halbes Mamaleben
7 oder 8 Jahre. Für mich fühlen sie sich wie die Hälfte meines Lebens an. Wie die Pubertät ist der Prozess des Mutterwerdens von Empfängnis bis ungefähr zum vierten Lebensjahr des Kindes eine eigene Leben- und Entwicklungssphase. Nur in diesen Jahren und während der Pubertät verändern wir uns so rasant und grundlegend. Wir lernen in einem Tempo, das wir ein ganzes Leben lang kaum durchhalten könnten, weder physisch noch psychisch.
Mama, change perspective!
Meine Vorstellung von der Welt und wie sie funktioniert, hat sich durch das Leben mit Kindern grundlegend geändert. Ohropax habe ich im Zug nicht mehr dabei. Anderen Müttern helfe ich beim Einsteigen und teile mein Obst mit ihnen und ihren Kindern. Wenn die Kinder singen, schreien und quietschen, ermuntere ich jede Familie, auf Kindererziehung zu pfeifen: Singen und das Entdecken der eigenen Stimme gelingt eben nur durch Ausprobieren.
Mütter sind nicht gefährlich
Ich verurteile Mütter nicht mehr, weil ich ihre Nöte jetzt verstehe. Es macht mich traurig, dass ich damals nicht verstand, was es bedeutete, dass die Stiefkinder schlafen gelernt hatten. Durch das Schlaftraining ist ihnen abgewöhnt worden, aus Bindungssicht gut für sich zu sorgen. Wenn Kinder nachts aus ihren Bettchen steigen, etwas trinken oder auf die Toilette möchten, ist das nur ein anderer Ausdruck für Ich brauche dich. Ihr Bindungssystem ist aktiviert und viele Kinder wissen, dass sie mit ihrer unverfänglichen Bitte eher gehört werden, als wenn sie weinen oder schreien.
Gestillte Bedürfnisse verschwinden. Unerfüllte begleiten uns ein Leben lang. (Nora Imlau)

Die Stiefkinder fürchteten sich bestimmt wie alle Kinder in der magischen Phase vor Hexen und Trollen unter ihrem Bett. Da sie ihren Impuls abtrainiert bekommen haben, sich Sicherheit bei ihren Bindungspersonen zu holen, waren sie auf sich selbst gestellt – und allein. Heute tut es mir leid, dass wir sie nicht begleiten konnten. Heute tut mir vieles leid, was ich ihnen aus Unwissen angetan habe.
Kindererziehung: Comin‘ home
Merlin spielt noch eine Stunde für sich auf dem Boden des Zug-Abteils. Dann klettert er auf den Sitz neben mir und legt seinen Kopf in meinen Schoß.
Der Zug nachhause hat mich damals ein gutes Stück weitergebracht als nur bis nach München.
Für welche Art der Kindererziehung hast du dich, habt ihr euch in der Familie aus welchen Gründen entschieden? Sind dir Grenzen wichtig oder lebt ihr als Familie eher nach demokratischen Prinzipien?
Alles Liebe,
Deine Tanja