Das Gehirn – Junge hält sich Buch vors Gesicht

Das Gehirn ist der Boss – oder sagt ihm irgendein ominöses Ich, wo’s lang geht? Ob ausgerechnet ein Comic Neues über die Machtverhältnisse zwischen Ego und Hirn zu Tage fördert, verrate ich in meiner RiskyRezension über ein ungewöhnliches Sachbuch. Erdacht, gezeichnet und verfasst von den Neurowissenschaftlern Matteo Farinella und Hana Roš.

Das Gehirn – wer ist hier der Boss?

Wer wissen will, wie Birne, Oberstübchen oder Graue Zellen funktionieren, liest für gewöhnlich einige Artikel im Netz oder kauft Bücher von Oliver Sacks, Gerald Hüther oder Joachim Bauer. Menschen wollen verstehen, was da oben klammheimlich ihr Leben plant, ausführt, empfindet und bewertet. Sind wir das? Oder folgen wir nur den Anweisungen einer biologischen Schaltzentrale? Wer könnte dieses ICH überhaupt sein?

Simplify your brain

Weil auch mich diese Fragen umtreiben, kommt mir das Buch Das Gehirn vom Kunstmann Verlag sehr recht. Der einzige Nachteil: Es ist ein Comic. Für die habe ich mich nie wirklich erwärmen können. Dennoch – es ist einen Versuch wert, meinem Hirn sich selbst auf neue Weise zu verkaufen. Nämlich in Schwarz-Weiß-Bildern, mit wenig Text, einfach, ohne intellektuelle Balztänze. Dafür aber gewaltig schick, mit viel Schatten und Licht.

Abbildung-Das_Gehirn

Das Gehirn – jeder sieht, was er sehen will

Alles über das Gehirn – oder doch nicht?

Zunächst einmal die Überraschung – das Buch kreist nicht um den Aufbau des menschlichen Gehirns. Den Autoren geht es weder um Gehirnfunktionen noch den groben Hirnaufbau. Viel kleinteiliger tauchen Leserinnen und Leser in die Hirn Anatomie ein.

Ich glaub‘, ich steh‘ im Wald

Der Protagonist landet zunächst auf unerklärliche Weise in einem dunklen, geheimnisvollen Wald. Inmitten wild wuchernder Vegetation sucht er nach einer Frau, die ihm im Prolog begegnet war und mit der er sich gern verabredet hätte.

Hier im Dickicht trifft er zunächst auf Santiago Ramón y Cajal, der sogenannte Vater der Neurowissenschaften. Es gäbe hier nicht so viele Frauen, enttäuscht ihn dieser. Und im Übrigen befänden sie sich nicht im Wald, sondern inmitten des Protagonisten-Gehirns, genau genommen in einem von vielen neuronalen Netzwerken. Das alles interessiert den schütthaarig-spitzkinnigen Herrn Mustermann wenig. Er will nur eins: Raus hier aus der Nummer. Also tut er so, als interessiere ihn der ganze Neuronenzirkus und hofft, seinem Hirn auf diese Weise zu entrinnen. Totstellen statt Angriff. Schöne Grüße von der Amygdala.

Unser Gehirn – Wirkungsweise in fünf Kapiteln

Dass das eher nicht funktioniert ist jedem klar, der nach einer durchzechten Nacht mit den alten Sorgen und dem Kater oben drauf wieder aufgewacht ist. So geht die Reise unseres Helden in fünf Kapiteln zunächst von der Morphologie innerhalb der neuronalen Netzwerke über die Pharmakologie in die Elektrophysiologie. Er macht einen Schlenker zur Plastizität und Sychchronizität, um im Epilog etwas über die vermeintliche Existenz seiner Seele zu lernen. Dabei macht weder Herr Pawlow noch sein larmoyanter Hund besonderen Eindruck auf ihn. Auch all die anderen, zum guten Teil streitbaren Herren (ja, es sind nur Männer), die sich mit der Funktionsweise unseres Gehirns auseinandergesetzt haben, lassen den Mann im Hirn kalt.

Wie das Gehirn die Seele macht

Zum Schluss geht’s für Herrn Mustermann ans Eingemachte. Irgendwie hat er doch Blut geleckt und wenn er schon mal hier ist, will er auch wissen, was es auf sich hat mit Hirn, Geist und Ego. Dafür lassen ihn Farinella und Roš ins Spukschloss abtauchen, wo er sich selbst erkennen darf.

Was wir als unser Ich erfahren, ist nur die globale Aktivität des Gehirns als ein Ganzes.

Persönlicher Exkurs: Nach der Reise ist vor der Reise

Die klassische Heldenreise endet für unseren Antihelden dort, wo eine neue Reise beginnt. Roš und Farinella lassen trotz eindeutiger Aussagen Raum für eigene Überlegungen, sie belehren nicht. Immer wieder dürfen wir lachen über das Augenzwinkern, das sie überall zwischen Bild und Text versteckt haben. Wir dürfen zweifeln an ihren Erklärungen, sie hinterfragen und für uns deuten. Für mich bleibt auch nach der Lektüre die Seele etwas, das sich Messbarkeit, Statistik und zu einem guten Teil auch der Wissenschaft entzieht.

Fazit

Ich fand es betörend, dass behelmte, fallschirmtragende Neurotransmitter miteinander debattieren, ein Typ in seiner eigenen Birne spazieren geht und unbedingt raus will. Das Dreiergespann Dendrit, Soma und Axon, die zusammen das Neuron ergeben, hat mich schwer beeindruckt. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, der Sache gefühlsmäßig auf die Spur zu sein. Der Comic kommt unserem Hirn mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen, klarer Symbolik und vergleichsweise einfacher Semantik entgegen. So lernt es sich leicht, die Inhalte bleiben durch die Verknüpfung mit den im Verhältnis zum Thema ungewöhnlichen Zeichnungen prima haften. So ist es den Autoren gelungen, Wissen mehrdimensional zu vermitteln. Sie tun es durch den Comic selbst, durch die Art der Umsetzung (gehirngerechtes Lernen). Und sie adressieren Verstand und Emotion gleichermaßen.

But …

Farinella und Roš machen ein solches Fass auf, dass mir persönlich der Umfang des Buchs nicht reicht. Wenn da schon jemand in die eigene Birne und damit in die menschliche Existenz hinabsteigt, dann bitte schön gern noch etwas tiefer, ja, fast differenzierter. Ein Beispiel: Antidepressiva verkaufen die Autoren im Comic als Heilmittel für bestimmte Störungen. Ich finde das zu kurz gedacht. Natürlich müssen verschiedene Aspekte des Themas hinten über fallen, wenn es in einem Comic verpackt daher kommen soll. Deshalb ist das Buch auch eher etwas für Leute, die sich schon ein bisschen in die Thematik hineingefuchst haben und Lücken mit Vorwissen ausfüllen können. Aber auch andersherum kann der Comic funktionieren: Für alle Brain-Newbies mag er ein guter Einstieg sein, der Lust aufs Thema macht und den verbreiteten Irrtum, Neurowissenschaft seien langweilig, von vornherein ausschließt.

Neue Perspektiven braucht das Hirn

Mist. Nach über 40 Jahren begreife ich nun, dass mich die Comic-Phobie eine Lern-Perspektive gekostet hat. Anderes ausgedrückt: Glück gehabt. Selbst nach 47 Jahren habe ich die Möglichkeit, neue Lern-Perspektiven kennenzulernen und auszuprobieren. Das Spiel mit den Perspektiven ist den Autoren gelungen. Und eine meiner Phobien ist geheilt.

Das_Gehirn-Buchcover

Das Gehirn: Buch mit Seele – auch wenn die Autoren es vielleicht anders sehen

Über die Autoren

Matteo Farinella

Dr. Matteo Farinella wurde in Bologna geboren, er promovierte am University College London in Neurowissenschaften. Seither kombiniert er seine Leidenschaft für Illustration mit wissenschaftlicher Expertise und arbeitet an Projekten, die Wissenschaft durch Visualisierung zugänglicher machen.Derzeit betreut er dazu ein Forschungsprojekt an der renommierten Columbia University.

Hana Roš

Dr. Hana Ros\x1A schloss ihr Studium der Neurowissenschaften an der UCL ab, danach promovierte sie in Oxford. Nach einem Postgraduiertenstipendium in Yale kehrte sie 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans UCL zurück.

Über das Buch

Titel: Das Gehirn*

Autor: Dr. Matteo Farinella und Dr. Hana Roš

Verlag: Kunstmann Verlag

Genre: Sachbuch

Erscheinungsdatum: 2018

ISBN: 3956142640

Format: Gebundene Ausgabe

Tipp Du brauchst noch mehr kluges Hirn-Futter? Dann empfehle ich dir das Buch Die Schuldigen* von Hanna und Nora Ziegert. Worum es genau geht, liest du in meiner Rezension zum Buch.

Ich finde, es gibt nichts Spannenderes als den Blick in das Gehirn eines Lebewesens. Geht es dir auch so? Welche Büchertipps zum Hirn hast du auf Lager?

Einen bezaubernden Lesespätsommer wünsche ich euch, habt’s gut! Sehen wir uns im Herbst wieder im Blogwohnzimmer auf einen Tee und ein Buch?

Alles Liebe & viele Grüße aus Schweden,

eure Tanja[

Tipp Wer noch tiefer eintauchen möchte – kein Problem. Matteo Farinella hat auch einen Comic über Die Sinne* erdacht und gezeichnet. Mein herzlicher Dank gilt dem Antje Kunstmann Verlag für das kostenfreie Rezensionsexemplar.

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